Amnesty International äußert gravierende menschenrechtliche Bedenken gegen den Gesetzentwurf für ein neues Sächsisches Polizeivollzugsdienstgesetz und ruft zur Teilnahme an der Demonstration “Polizeigesetz Stoppen!” am 17. November in Dresden auf. Die zahlreichen neuen Eingriffsbefugnisse stellen Bürger_innen im Freistaat zunehmend unter Generalverdacht und bergen die Gefahr, dass Unschuldige beträchtlichen Einschränkungen ihrer Grund- und Bürgerrechte ausgesetzt werden.
Dresden, 05. November 2018 – Nach mehreren anderen Bundesländern plant auch Sachsen eine Novellierung seines Polizeigesetzes, welche voraussichtlich im ersten Quartal 2019 und damit vor der anstehenden Landtagswahl vom Parlament verabschiedet werden soll. Die geplanten Eingriffsbefugnisse der Polizei stehen in einer Linie mit verschärften Sicherheitsgesetzen zahlreicher anderer EU-Staaten, die bereits in einem Bericht von Amnesty International analysiert und als Gefahr für die Menschenrechte bewertet wurden. Auch die Entwürfe der Sächsischen Regierung für ein Polizeivollzugsdienstgesetz (SächsPVDG-E) sowie ein Polizeibehördengesetz (SächsPBG-E) führen weitreichende Befugnisse gegen sämtliche Bevölkerungsgruppen unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung ein und werfen die Frage auf, wer letztlich die größere Bedrohung für den Rechtstaat darstellt.
Zwar stellt der Gesetzentwurf an verschiedenen Stellen auf Personen ab, “deren Verhalten die konkrete Wahrscheinlichkeit begründet, dass sie in überschaubarer Zukunft eine terroristische Straftat begehen werden” – und richtet sich damit klar gegen terroristische Gefahren. Einen nahezu gleichen Stellenwert haben jedoch weiterhin Personen, “bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass sie innerhalb absehbarer Zeit eine ihrer Art nach konkretisierte Straftat von erheblicher Bedeutung begehen werden“. Damit werden zwei verschiedene Definitionen von “Gefährdern” geschaffen, von denen insbesondere letztere eine große Rechtsunsicherheit für die Betroffenen, aber auch für die ausführenden Polizeibeamt_innen schafft: Denn was ein absehbarer Zeitraum oder eine erhebliche Straftat darstellen, bleibt im Gesetzentwurf völlig unklar und soll lediglich auf einer vagen Einschätzung der Beamt_innen beruhen. Zudem zeigt sich damit, dass es dem Gesetzentwurf keineswegs nur um die Bekämpfung von Terrorismus geht, sondern um erweiterte Befugnisse gegenüber jeder Art von Kriminalität.
Ein wichtiger Aspekt des Rechtstaatsgebots (aus Art. 6 EMRK, Art. 20 Abs. 3 GG, Art. 103 GG) ist die Garantie von Rechtssicherheit und ausreichender Bestimmtheit von Rechtsvorschriften: Jeder Mensch muss wissen können, durch welches Verhalten er oder sie sich strafbar macht oder polizeiliche Überwachungsmaßnahmen auslösen kann. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fordert in ständiger Rechtsprechung, dass polizeiliche Befugnisse so klar formuliert sein müssen, dass Menschen ihr Verhalten darauf anpassen können.
Mit den vagen Definitionen des Gesetzentwurf ist diese Rechtssicherheit nicht gegeben. Vielmehr schaffen sie eine Grundlage dafür, dass Menschen, die in keinerlei Verbindung zu terroristischen oder anderen Straftaten stehen und dies auch nicht planen, Ziel von rechtswidrigen Sicherheitsmaßnahmen werden. Zu diesen möglichen Maßnahmen zählt der Gesetzentwurf neben Telekommunikationsüberwachung auch Meldeauflagen, Aufenthaltsverbote und -gebote, Kontaktsperren sowie elektronische Fußfesseln, welche genaue Bewegungsprofile anlegen können. Ein Großteil dieser Maßnahmen kann sich ferner auch auf unschuldige Kontakt- und Begleitpersonen erstrecken.
Der Gesetzentwurf ignoriert damit ebenso ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urteil vom 20.04.2016 – BvR 966/09, BvR 1140/09), welches der Zulässigkeit von Sicherheitsmaßnahmen, die noch vor dem Eintreten konkreter Gefahren eingeleitet werden, enge Grenzen gesetzt hat. So sahen die Verfassungsrichter für den Zeitraum einer nur vagen Gefahreneinschätzung lediglich Gefahrüberwachungsmaßnahmen vor, nicht aber Befugnisse wie Kontaktsperren, Aufenthaltsanordnungen oder elektronische Fußfesseln, welche direkt in den Kausalverlauf eingreifen. Ebenso sahen sie Maßnahmen nur gegen terroristische Gefahren als zulässig an, nicht aber gegen einen weitreichenden Gefährderbegriff, der letztlich alle möglichen Delikte umfassen kann. Somit besteht Anlass zur Befürchtung, dass mit diesen weitgehenden Regelungen Menschen, die keinerlei Straftat begangen haben, bereits präventiv bestraft werden, wie Straftäter_innen behandelt und stigmatisiert werden. Ein jedes, an sich nicht rechtswidriges Verhalten wie der Besuch eines bestimmten Vereinsheims oder einer bestimmten Versammlung könnte dann anhand vager Kriterien zur Grundlage für schwere Grundrechtseingriffe werden.
Auch zahlreiche weitere Bestimmungen des Gesetzentwurfs geben Anlass zur Sorge. So soll künftig etwa eine intelligente Videoüberwachung mit Gesichtserkennung an Orten möglich sein, an denen eine “abstrakte Gefahr” besteht, sowie innerhalb eines 30-Kilometer-Grenzbereiches, welcher aufgrund der ausgedehnten Grenzen Sachsens zu Polen und Tschechien einen erheblichen Teil des Landes ausmacht. Wann eine abstrakte Gefahr vorliegt, bleibt ebenfalls einer vagen Einschätzung der Polizeibeamt_innen unterworfen und kann dazu führen, dass unschuldige Bürger_innen permanent überwacht werden, indem eine Grundlage für Videokameras an jedem beliebigen Ort geschaffen wird, an dem zumindest theoretisch eine wie auch immer geartete Straftat begangen werden kann. Damit werden Menschen letztlich einem Generalverdacht ausgesetzt und in ihrem Menschenrecht auf Privatsphäre beschränkt.
Unter ähnlich ungenauen Gesichtspunkten soll eine präventive Telekommunikationsüberwachung von Personen möglich sein, die sich nicht lediglich auf das Mitlesen und Mithören von Informationen beschränkt, sondern unter anderem auch zur Unterbrechung und Verhinderung von laufender Kommunikation berechtigt – Etwa indem das Übertragungsnetz in einem räumlichen Bereich (bspw. während einer Demonstration) unterbrochen wird und unschuldige Passant_innen und Anwohner_innen aufgrund ungenauer Verdachtsmomente in Mithaftung genommen werden. Auch Berufsgeheimnisträger wie Ärzt_innen, Journalist_innen und andere Personengruppen sollen künftig leichter abgehört werden dürfen und zwangsweise vorgeladen oder in Zwangshaft verbracht werden. Zuletzt soll eine unverhältnismäßige Aufrüstung der Einsatzkräfte mit Maschinengewehren und Handgranaten erfolgen.
Zugleich stellt der Gesetzentwurf einer solchen Anzahl von Eingriffsbefugnissen, welche die Menschenrechte der Betroffenen in schwerer Weise einschränken können, keinerlei Kontrollmechanismen gegenüber. Zwar ist die Errichtung einer Beschwerdestelle für unrechtmäßige Polizeimaßnahmen vorgesehen, jedoch soll diese dem Innenministerium unterstellt sein, wodurch Beamt_innen letztlich gegen ihre eigenen Kolleg_innen ermitteln würden und eine unabhängige Aufklärung eben gerade nicht sichergestellt werden kann. Ebenso ist weiterhin keine Kennzeichnungspflicht für Polizeibeamt_innen vorgesehen, welche eine Aufklärung individuellen Fehlverhaltens überhaupt erst möglich machen kann.
Amnesty International bringt seine grundsätzlichen menschenrechtlichen Bedenken gegen das geplante Sächsische Polizeigesetz zum Ausdruck und wendet sich eindringlich die aktuelle Entwicklung, unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung große Teile der Bevölkerung unter zunehmenden Generalverdacht zu stellen. So wichtig und begründet der Schutz vor Terroranschlägen ist, müssen dabei stets die Grund- und Bürgerrechte gewahrt werden; eine Überwachung oder gar präventive Bestrafung von Unschuldigen aufgrund vager Indizien muss vermieden werden.
Zur öffentlichen Sachverständigenanhörung im Sächsischen Innenausschuss am 12. November wird Amnesty International seine Kritik am Gesetzentwurf gegenüber der Regierungskoalition verdeutlichen. Darüber hinaus ruft Amnesty dazu auf, sich der Kundgebung des Bündnisses “Polizeigesetz Stoppen” am 17. November um 14:00 Uhr auf dem Wiener Platz in Dresden anzuschließen, sich über die geplanten Verschärfungen im Detail zu informieren und ein deutliches Zeichen für eine menschenrechtsorientierte Innenpolitik zu setzen.
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